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Ein Ruf nach einem neuen Typus Arzt

Gero Strauss • 19. Juni 2023

Der Anspruch an den Arzt verändert sich. Im „vor-Internet-Zeitalter“ hatte der Arzt vor allem das Wissen voraus, mit welchem er Symptome erklären und behandeln konnte. Heute kann sich jeder Mensch mit Hilfe von Suchmaschinen, mit oder ohne künstliche Intelligenz, ein recht zuverlässiges und verständliches Bild von der jeweiligen Situation machen. Das bringt den Arzt in eine ungewohnte Situation: er muss davon ausgehen, dass sein Patient bereits eine Vorstellung von Diagnose und Therapie hat oder die Behandlungsempfehlung wenigstens nach dem Arztbesuch noch einmal prüft. In einem ersten Reflex wurde von der Ärzteschaft vor diesem, allemal unvermeidlichen Effekt gewarnt. Einzelne Ärzte wollten sogar Patienten nicht behandeln, die sich entsprechend informiert hatten. Heute ist die Sorge vor Dr. Google verblasst, was auch daran liegt, dass die Algorithmen valide Informationen zuverlässig von weniger valide Informationen filtern und dem Patienten gut verständlich präsentieren.


Das Sprechzimmer erreicht ein Wettbewerb des Wissens. In diesem Wettbewerb hat der Arzt die Aufgabe, aus dem verfügbaren Wissen auf Grund seiner Ausbildung und Erfahrung die bestmögliche Diagnostik und Therapie herzuleiten und an die aktuellen Befunde anzupassen. Vor allem aber hat er die hervorragende Chance, diese Informationen dem Patienten so zu erklären, dass der Besuch bei einem Arzt -ob in der Praxis oder als Videokonsil- weiter einen Mehrwert bietet. Dafür muss der Arzt seine Kommunikation anpassen. Ist er immer noch ausgebildet, in einer unverständlichen Sprache nur innerhalb des Kollegenkreises zu kommunizieren, muss er heute immer komplexere Zusammenhänge in einfacher Sprache übermitteln. Konnte der Arzt in der Vergangenheit bei jeder Gelegenheit auf die Kompliziertheit der Materie verweisen, so muss er heute damit rechnen, dass es ein Computerprogramm besser erklärt. Das bedeutet auch, dass der Arzt sich mit vorschnellen oder falschen Schlussfolgerungen auseinandersetzen muss, ohne sich dabei in seiner Berufsehre gekränkt zu fühlen. Es mag sein, dass Manchen damit ein Stück des Zaubers des Arztberufs verloren geht. Aber, abgesehen davon, dass diese Entwicklung ohnehin nicht zu stoppen ist: Ist es nicht überfällig, dass Arzt und Patient auf einer informativen Augenhöhe miteinander sprechen, vielleicht sogar „verhandeln“? Rückblickend war es längst Zeit, dass sich die introvertierte Welt der Medizin öffnet. Jeder Patient, der sich einer Behandlung unterziehen muss, leidet doch ohnehin schon unter der Abgabe der Intimsphäre und Selbstbestimmtheit. Ein Arzt, der verständlich über die Situation informiert und dem Patienten dabei die Möglichkeit der Mitbestimmung gibt, hilft dabei, diese Situation zu überwinden. An dieser Stelle kommt die Anforderung an Empathie ins Spiel. Die Fähigkeit, sich in den Patienten hineinzuversetzen und mit einer gesunden Mischung aus Mitgefühl und Objektivität die passenden Entscheidungen und Worte zu finden, wird auf lange Zeit den „menschlichen Ärzten“ vorbehalten sein. Maschinelles Lernen und Künstliche Intelligenz werden diese hohen Leistungen des Menschen erst einmal nicht leisten können.


Unser heutiges Ausbildungssystem ist ein Ausbildungssystem der vergangenen Jahrhunderte. Es unterscheidet nicht, ob ein Arzt später vorwiegend mit seinen Sinnen, mit seinem Wissen, mit seinen Händen oder mit Maschinen arbeitet. Obwohl der Arztberuf inzwischen so spezialisiert ist, durchlaufen alle Mediziner ein gleichgeschaltes Studium, in welchem sie Zeit und Möglichkeiten verlieren. Vor allem aber setzen die Zugangsvoraussetzungen zum Studium der Humanmedizin viel zu stark auf einen Notendurchschnitt, der vielleicht über kognitive Fähigkeiten, logisches Denken und Grenzbegabungen Auskunft gibt. Empathie, Wertegefüge, Reife der Persönlichkeit und Stressresistenz sind hingegen kaum ein Vorteil für die Vorauswahl in diesen Beruf. Wie viele begabte Menschen können durch diese unsinnige Selektion den ersehnten Beruf nicht ergreifen, wie viele ungeeignete Kandidaten landen hingegen nach 12 Semestern eines harten Studiums in Krankenhäusern, OP-Sälen und Praxen?


Warum ist es der Medizin nicht gelungen, sich diesen Veränderungen anzupassen? Wieso ist das „Assesment“ in Berufen wie des Flugzeugpiloten nicht nur wesentlich praxisnaher, sondern auch viel konsequenter? Schon lange berichten erfahrene Ärzte von dem Entsetzen auf beiden Seiten, wenn hochintelligente, aber gänzlich ungeeignete Absolventen auf die Herausforderungen des ärztlichen Alltags treffen.



Es ist an der Zeit, endlich die generelle Veränderung und die Diversifizierung des Berufes anzuerkennen und die Auswahlverfahren und Ausbildung anzupassen. 

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