Die Leistungen eines ambulant tätigen Arztes bei einem gesetzlich versicherten Patienten werden seit jeher auf der Basis eines Einheitlichen Berechnungsmaßstabes (EBM) und über die Kassenärztliche Vereinigung mit den Krankenkassen abgerechnet. Hier folgt eine Einschätzung dieses Systems nach mehr als 15 Jahren Erfahrungen als betroffener Kassenarzt und Leiter mehrerer Praxen.
Der Patient weiß nicht, auf was er sich und seine Gesundheit einlässt
Der Patient zahlt seinen gesetzlich festgelegten Krankenkassenbeitrag, derzeit 14,6% seines Einkommens. Mit diesen hohen Ausgaben darf der Patient erwarten, jederzeit die beste medizinische Behandlung zu erhalten. In der Praxis jedoch spürt der Patient ein Unterangebot an verfügbaren Terminen. Er kann sich die Praxis kaum aussuchen, sondern muss nehmen, was er bekommt. Dabei spürt er auch, dass er als Patient -zumindest wirtschaftlich- wenig interessant erscheint. Allein die Hinweise auf gesonderte Termine für privat versicherte Patienten und Selbstzahler lassen diesen Eindruck entstehen. Wird der Patient behandelt, so bleiben die durchgeführten, vor allem aber die später abgerechneten Leistungen für ihn intransparent. Er könnte eine Patientenquittung anfordern, aber aus irgendeinem Grund gilt hier im digitalen Zeitalter immer noch die Aktivregel. Der GKV-Patient kann also nur ahnen, was die Untersuchung kostet bzw. wieviel der Arzt dafür erhält. So kommt es entweder zu der Vermutung, dass die Leistungen des Arztes scheinbar ausreichend gedeckt sind, denn sonst würde der Arzt ja nicht behandeln. Oder aber, dass die Leistungen nichts kosten und damit auch nichts wert sein können. Beides ist jedoch falsch. Der Arzt ist stattdessen gezwungen, seine Leistungen in kürzest möglicher Zeit, oder weniger, zu erbringen. Der Arzt kann gar nicht anders, als bestimmte Leistungen, sofern es die Regularien erlauben, bei jedem möglichen und unmöglichen Gelegenheit zu wiederholen, ganz losgelöst, ob diese immer Sinn ergeben.
Der Arzt rennt in einem Hamsterrad
Denn, der Arzt leidet an einer chronischen Unterfinanzierung seiner Leistungen. Es ist bereits so viel zu den, teils absurden, aber fast immer unpassenden Kalkulationen der Leistungen geschrieben und gesagt worden, dass eine erneute Darlegung unnötig ist. Es sei nur auf die oben angeführte Tabelle mit 3 häufigen Leistungen aus dem Fachgebiet HNO verwiesen. Die Grundlagen dieser Berechnungen sind einfach nachvollziehbar: Es sind die Brutto-Gehaltskosten eines Arztes von EUR 120 und einer medizinischen Mitarbeiterin von EUR 30 angenommen. Die benötigte Zeit, der sonstige Aufwand und die Budgetabzüge sind sehr zurückhaltend angenommen. Trotzdem kommt bei jeder Kalkulation ein kräftiges Minus heraus. Wie kann das sein? Wie kann ein Arzt eine Leistung anbieten, wie z.B. die Hörprüfung, bei der er trotz des Ansatzes von nur 5 Minuten Zeit für Einführung und Auswertung 3 EUR Verlust macht? Und dies nicht nur als Ausnahme, sondern im Regelfall, also immer und immer wieder? Die Antwort ist nicht ganz einfach: zum einen verzichten viele Ärzte auf einen angemessenen Anteil am Honorar. Wenn der Arzt beispielsweise seinen Einsatz nur mit der Hälfte des Honorars, also EUR 60 pro Stunde bewertet, kommt ein knappes Plus von EUR 1,94 für diese (nicht ganz einfach durchzuführende und zu interpretierende) Untersuchung heraus. Des Weiteren müssen Ärzte an der Vergütung der Mitarbeiter sparen, was dazu führt, dass heute immer weniger qualifizierte Mitarbeiter in Arztpraxen tätig sind. Die beitragsfinanzierten Werbekampagnen der staatlich subventionierten Krankenhäuser mit höheren Tariflöhnen und Startprämien beschleunigen diese Entwicklung. Die Investitionen in Technik für Untersuchungen, die keinen (oder einen negativen) Ertrag hat, wird zurückgestellt. In der Folge gibt es wohl kaum einen sicherheitskritischen Industriebereich in Deutschland mit einer dermaßen systematisch veralteten Gerätetechnik und/oder dem Einsatz ungenügend geprüfter und teils nicht zugelassener Consumer-Technik. Dies hat Folgen für die Hersteller, die sich aus den wenig lukrativen Markt der ambulanten, GKV-finanzierten Medizin zurückziehen. Schließlich, und hier wird es spekulativ, können nur sehr hohe Behandlungszahlen mit entsprechend niedrigen Behandlungszeiten und möglichst zahlreichen abrechnungsfähigen Leistungen dazu führen, dass die Behandlung doch noch kostendeckend bzw. gewinnbringend ist. Fakt ist, dass die GOP-Häufigkeit, also die Abrechnung bestimmter Leistungspositionen pro Patienten und Quartal nach der Übernahme der Leistungsabrechnung in eine zentrale professionelle Abteilung mit einem Vier-Augenprinzip und automatisierten Plausibilitätskontrollen deutlich unter den Häufigkeiten der Fachgruppe liegt. Ob dies daran liegt, dass alleinkämpfende Ärzte deutlich schneller in der Durchführung (der ohnehin knapp kalkulierten) Behandlungen sind; oder ob diese Ärzte besonders viel mehr komplizierte Fälle mit entsprechendem Aufwand behandeln, mag dahingestellt sein. Man könnte jedoch annehmen, dass ein System, dass einerseits Leistungen beinahe schon unmoralisch schlecht vergütet und gleichzeitig den Ansatz von Leistungen mit beinahe unendlichem Vertrauen dem Leistungserbringer überlässt, zu Unregelmäßigkeiten führt. Um es klar zu sagen: die Ärzte sind nicht die Verursacher, sondern die Leidtragenden des Systems, welches nach dem Grundsatz funktioniert, dass eine planwirtschaftliche Struktur sich so lange eigene Regeln schafft, bis niemand mehr in diesem System tätig sein kann, ohne diese Regeln zu verletzen. Und damit eine gegenseitige Abhängigkeit resultiert, die eine Änderung des Systems unmöglich macht.
Systemkonformität belohnen, Leistungsorientierung bestrafen
Um es etwas anschaulicher zu machen: Das KV-System, die von den gesetzlichen Krankenkassen bereit gestellten Milliarden an Honorar zwischen den Ärzten zu verteilen, sieht im Prinzip ein Leistungsversprechen der 1970er Jahre vor: der einzelne Arzt mit einer Praxis, einer Wochenarbeitszeit von 30h und etwa 6 Wochen Praxisurlaub pro Jahr. Bereitschaftsdienste, Wochenenden und Feiertag werden von den ebenfalls subventionierten Krankenhäusern erbracht. Alle Grenzen der Vergütung, die sogenannten Budgets beziehen sich noch immer auf diese Grundlagen, obwohl diese bereits vor 50 Jahren den Patienten kaum beachtet haben. Kommt heute ein Schichtmanager eines „Medizinischen Versorgungszentrums“, noch ein Kunstbegriff der Politik und Selbstverwaltung, zu dem Schluss, dass er einen Arzt vom Standort A zum Standort B versetzten müsste, um die Patienten zu versorgen, so begeht er damit pro forma Beihilfe zum Abrechnungsbetrug. Denn der Vertragsarzt darf strikt nur an dem Standort eingesetzt werden, an dem er angemeldet ist. Kurzfristige, oder gar unbürokratische Ausnahmen sind nicht vorgesehen. Beschließen Ärzte eines MVZ gemeinsam, die chirurgisch versorgten Patienten nicht nur zu den Sprechstunden, sondern auch nachts und am Wochenende zu versorgen, so gelangen sie gleich doppelt in Konflikt mit dem „KV organisierten Notdienst“ und dem staatlichen Bettenplan. Im besten Fall dürfen sie die Leistungen umsonst erbringen, im schlimmsten Fall drohen Regresse und der Verlust der gesamten Abrechnung, sollte der Patient z.B. eine Nacht in der „ambulanten“ Klinik verbringen. All diese und ähnliche „Verstöße“ werden mit großer Aufmerksamkeit durch diverse Aufsichtsbehörden, die meisten davon in ärztlicher Eigenverwaltung, geahndet und münden nicht selten in dem schwerwiegenden Vorwurf des Abrechnungsbetruges. Die tagtäglichen Auffälligkeiten, nachdem wir in Deutschland z.B. mehr als 5x so viel Hörprüfungen, 3x so viel Allergietests oder 2 x so viel Arztbesuche wie in vergleichbar entwickelten Ländern mit anderen Gesundheitssystemen benötigen, werden hingegen systematisch toleriert.
Die Krankenkassen haben den Arzt längst aus den Augen verloren
Die Entkopplung des Arztes von der Krankenversicherung war in dem Vor-Digital-Zeitalter sicherlich notwendig. Heute führt sie dazu, dass die Krankenkassenmanager selbst beim besten Willen und Absichten für die ambulante Versorgung ihrer Versicherten gar keine andere Wahl haben, als mit dem Koloss Kassenärztliche Vereinigung zu verhandeln. Hier werden praktische ärztliche und medizinische Leistungen schnell in Fachgruppen, Pauschalen, Budgets, Zu- und Abschläge, Regelleistungsvolumina, Qualitätsbezogene Zusatzvolumina, Honorarverteilungsmassstäbe u.v.m. zu einem völlig unübersichtlichen System, welches selbst Profis längst überfordert. Hinter vorgehaltener Hand weiß jeder Beteiligte, dass sich Auswirkungen von einzelnen Veränderungen, wie z.B. die jüngste "Entbudgetierung" der Kinderärzte kaum mehr vorhersehbare Folgen für das Gesamtsystem hat. Die Krankenkassen leiden also auch unter den negativen Folgen der Selbstverwaltung, die nicht nur die Verteilung des Honorars, sondern auch das Qualitätsmanagement mit eigenen Protagonisten zu leisten vorgibt. Und dabei natürlich versagen muss.
Das System steht dem Arztberuf entgegen
Das geschilderte System ist ein Ergebnis von mehr als 10 Generationen Ärzten, Politikern, Krankenkassen und Patienten. Das System steht dem Arztberuf entgegen. Arzt sein bedeutet, für die Sicherheit und die Gesundheit des Patienten da sein zu dürfen. Wie bei einem Airline-Piloten soll das darum geschaffene System dafür sorgen, dass er diese Aufgabe möglichst ungestört und abseits von fehlerhaften Anreizen absolviert. Das System der GKV-Vergütung in der ambulanten Medizin stellt das Gegenteil dar: Ärzte sind quasi Angestellte eines Systems, dass mit falschen Annahmen eine realistische Kalkulation unmöglich macht, Fehlanreize zu unnötigen Untersuchungen setzt, sinnvolle Untersuchungen unmöglich macht, Qualität nicht fördert, Wettbewerb verhindert, Innovationen verhindert, wenn sie nicht aus dem System selbst kämen. Ein System, dass sich mit einem monströsen Verwaltungsapparat und unzähligen Funktionären selbst verwaltet und immer weiter vergrößert. Ein System, dass alle Beteiligten unzufrieden und mit dem Gefühl zurücklässt, dass man mit etwas Mut ein viel besseres Ergebnis für so viel Geld verdient hätte.